Roland Czada, Univ. Osnabrück,
Vortrag bei der Tagung „Nach der Diktatur -Vergangenheitsaufarbeitung und demokratische Transformation – Kambodscha, Deutschland, Peru, Südafrika und Osttimor“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin, 15. April 2005.
Wie lässt sich Frieden herstellen und dauerhaft sichern in Ländern, in denen sich Nachbarn erschlugen und Hundertausende oder gar Millionen umkamen - weil sie politisch anders dachten, anders glaubten, anders aussahen oder was auch immer die Opfer kennzeichnete. In Kambodscha reichte es, eine Brille zu tragen, eine Fremdsprache zu sprechen, oder aus irgendeinem anderen Grund Mißfallen zu erregen.
Die Geschichte kennt viele, zuweilen sehr verschlungene Auswege aus Gewaltverhältnissen. Nicht alle führen zu dauerhafter Versöhnung und politischer Stabilität. Manche führen in Sackgassen, an deren Ende gesellschaftliche Konflikte nicht versöhnt, sondern nur überdeckt werden und daher früher oder später wieder ausbrechen können. Dazu zählen insbesondere solche, die auf eine Unterdrückung des Streites hinauslaufen. Dolf Sternberger, der frühere Heidelberger Politikwissenschaftler, nennt dies einen „dämonologischen Frieden“. Er ist so wenig dauerhaft und wahrhaftig wie der "eschatologische Friede", der - zumeist getragen von ideologischer Indoktrination - die Erlösung vom Streit verspricht. Konflikte werden in diesem Fall nicht einer substantiellen, sondern lediglich rhetorischen Lösung zuführt. Versöhnung kann in diesem Sinne oberflächlich bleiben, während unterschwellig Unfreiheit und Gewaltverhältnisse fortwirken.
Dauerhaft ist allein ein auf Versöhnung gegründeter Verfassungsfrieden, der von allgemein anerkannten Regeln des Zusammenlebens und Institutionen der gewaltfreien Konfliktaustragung und Interessenvermittlung getragen wird. Ihn zu erreichen erfordert eine politische Transformation von politischen Unrechtssystemen in demokratische und rechtsstaatliche Strukturen. Für Nach-Konflikt-Gesellschaften (post-conflict societies) bedeutet dies einen politischen Akt der Selbstbindung und des Gewaltverzichtes. Um zu einem Verfassungsfrieden zu gelangen, reicht es keineswegs aus, nur formale Konfliktregelungsinstitutionen zu schaffen, Wahlen zu veranstalten und eine Regierung zu bilden. Wie gegenwärtig der politische Transformationsprozess im Irak zeigt, bedarf es zusätzlicher Anstrengungen, einen gesellschaftlichen Werte- und Verfassungskonsens herzustellen, ohne den eine politische Legalordnung nicht mehr ist als ein leere Hülse. Nach Zeiten der Diktatur und politischer Gewaltexzesse setzt ein solcher Konsens voraus, sich der Vergangenheit zu stellen.
Vergangenheitspolitik kann sich über Jahrzehnte hinziehen. Zwischen dem kolonialen Vernichtungskrieg gegen die Herero in der früheren deutschen Kolonie Südwestafrika und dem offizielle Eingeständnis der deutschen Schuld liegen Generationen. Ähnliches gilt für den Genozid an den nordamerikanischen Indianern oder den australischen Aborigines. Die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern lag ebenso wie Prozesse gegen greise NS-Täter in Deutschland und Frankreich viele Jahrzehnte nach dem Ende des Nazi-Regimes. Die gegenwärtige Einsetzung eines UN-Tribunals zur Aufarbeitung der Schreckensherrschaft der Roten Khmer (1975-1979) ist ein weiteres Beispiel für dafür, dass Straflosigkeit und Schweigen oft erst Jahrzehnte nach dem Ende von Gewaltherrschaft und Systemunrecht durchbrochen werden.
In welcher Phase und mit welchen Mitteln auch immer sie betrieben wird, hat Vergangenheitspolitik drei wesentliche Aufgaben zu erfüllen. Dies sind:
- Versöhnung und Vergebung (Reconciliation)
- Wiedergutmachung und Bestrafung (Restaurative Justice)
- Erinnerung und Geschichtsschreibung (Remembrance).
Über diesen, in einer Wechselbeziehung stehenden Zielen der Vergangenheitspolitik steht als kategorischer Imperativ die Forderung, dass, was war, nie wieder geschehen darf. Das „Nie wieder“ verbindet die einzelnen, zumeist durchaus kontroversen Teilbereiche der Vergangenheitspolitik, und markiert so das gemeinsame Interesse an Versöhnung und einer besseren Zukunft.
Die Option auf Vergeltung zu verzichten und Strafen nur in Ausnahmefällen schwerster Verbrechen zu verhängen findet sich meist dort, wo der politische Wandel auf einen politischen Kompromiss zwischen den Vertretern eines Unrechtssystems und den politischen Anwälten der Opfer zurückgeht und insofern eine von internationaler Einmischung freie Vergangenheitspolitik gelungen ist. Dieses Muster findet sich in Südafrika und in Ländern wie El Salvador, Namibia, Nicaragua and Uruguay. Oft sind dort auch wichtige Dokumente, die eine umfassende strafrechtliche Verfolgung ermöglicht hätten, vernichtet worden. Zugleich gab es einen in der Bevölkerung breit verankerten Willen zur Wahrheitsfindung und Versöhnung. In die Reihe dieser Länder lässt sich Kambodscha nur bedingt aufnehmen. Dort ist die Intervention der internationalen Staatenwelt weit stärker ausgeprägt, während die innergesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen für einen auf historischer Wahrheitsfindung begründeten Prozess der Versöhnung und Vergebung weniger vorhanden sind.
Kambodscha hat zwar ein Tribunal aber keine Wahrheitskommission. Zum Teil ungeübte, unter dem Verdacht der politischen Bevormundung und Bestechlichkeit stehende Juristen urteilen über eine kleine Zahl von Tätern. Eine gesellschaftliche, diskursive Aufarbeitung der Vergangenheit kann damit zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur eingeschränkt gelingen.
Wenn als Folge eines politischen Kompromisses oder wegen der Vernichtung von Beweismitteln oder aus juristischen und gesellschaftlichen Gründen strafrechtliche Verfolgung ausgeschlossen oder - wie in Kambodscha - nur sehr begrenzt möglich ist, sollte wenigstens die subjektive, von Tätern und Opfern erlebte Wahrheit einzelner Vorfälle und Verbrechen ans Licht kommen. Dies ist die Ratio von „Wahrheits- und Versöhnungskommissionen“. Die Wahrheit ist das, was man den Opfern anbieten kann, wenn Gerechtigkeit nicht möglich ist. Eine solche Art der Aufklärung ist als dritter Weg zwischen der strafrechtlichen Verfolgung und der Alternative des Verschweigens, Vergessens und Verdrängens bezeichnet worden. In Kambodscha ist der Vergangenheitsdiskurs, die jenseits von Politik, Tribunal und Strafjustiz stattfindende gesellschaftliche Auseinandersetzung mit vergangenem Systemunrecht noch nicht weit entwickelt. Vielleicht wird erst eine nachwachsende Generation in der Lage sein, das Leid der Opfer zu empfinden und das dafür verantwortliche Unrechtssystem in seinem ganzen Ausmaß und vor allem in seinen tiefer liegenden Wurzeln zu analysieren sowie einen historischen Lernprozess in Gang zu setzen.
Versöhnung und Bestrafung
Die Politik der Versöhnung kann am Individuum oder an Gruppen ansetzen. Im Mittelpunkt der südafrikanischen „Wahrheits- und Versöhnungskommission“ (Truth and Reconciliation Commission) standen einzelne Taten, das individuell erlittene Leid und das individuelle Verbrechen – also einzelne Opfer und Täter. Die Täter gestanden ihre Tat und baten ihre Opfer, deren Angehörige oder Hinterbliebenen um Vergebung. Das Verfahren führte – wenn ein von Strafrichtern besetztes Amnestie-Komitee zustimmte - zur Amnestie der Täter.
„Wahrheits- und Versöhnungskommissionen“ in Südafrika und Lateinamerika sind gelegentlich auf Kritik gestoßen, weil sie gerade keine systematische Aufklärung der Betriebsweise von Unrechtssystemen leisten konnten. Die Kritik, dass hier ein – im Ganzen diffuses Bild der Wahrheit re-konstruiert wurde ohne wirklich Aufklärung zu leisten, ist gerechtfertigt, kann aber andererseits den historischen Beitrag zur Versöhnung, den solche Kommissionen zweifellos zu Wege bringen, nicht schmälern.
Ganz anders ist die Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ vorgegangen. Obwohl auch hier eine Anzahl individueller Fälle behandelt wurde, ging es im Wesentlichen um die Analyse von Systemunrecht. Wir wissen nun – dies ist in 18 Protokollbänden auf über 15.000 Seiten festgehalten - wie Systemunrecht, Überwachung und Unterdrückung, Belohung und Bestrafung in der DDR funktionierten. Das damit verbundene individuelle Fehlverhalten war in Deutschland Gegenstand strafrechtlicher Verfahren und nicht einer „Wahrheits- und Versöhnungskommission“. Dies ist verschiedentlich beklagt worden, weil Versöhnung als Zusammenhang von öffentlichem Schuldbekenntnis der Täter und Vergebung durch die Opfer auf diese Weise überhaupt nicht thematisiert wurde. Wenn überhaupt, handelte es sich um strafrechtliche Sühne, die - staatlich vermittelt – im günstigsten Fall Rechtsfrieden, nicht aber eine umfassende Versöhnung und Re-integration der Gesellschaft – Nation-Building, wie es im südafrikanischen Kontext heißt - leisten konnte. Nation-Building erscheint aber als eine der wesentlichen Voraussetzungen für einen dauerhaften Verfassungsfrieden.
Warum sind gesellschaftliche Versöhnung und eine gelebte nationale Einheit so wichtig für die Etablierung des Verfassungsfriedens? Die Frage erhält besonderes Gewicht, weil wir uns – wie weithin behauptet wird – in einer postnationalen Konstellation befinden, in der eine sich herausbildende kosmopolitische Welteinheit die nationalen Bezüge der Wirtschaft, Politik und Gesellschaft immer mehr in den Hintergrund treten lässt, eine Situation, in der – namentlich in Deutschland - Verfassungspatriotismus anstelle von Vaterlandsliebe und Nationalstolz gefordert wird. Warum wird in Transformationsländern trotzdem so viel getan, um eine nationale Identität zu stiften und ein starkes Nationalbewusstsein zu fördern? In Südafrika geht dies soweit, dass neben einer von der Regierung gepflegten Nationalstolz-Rhetorik regelrechte Nationalstolz Kampagnen initiiert werden.
Diejenigen, die den oft mit Emotion und Pathos geführten Appell an die nationale Einheit und Werbung für Nationalstolz irritierend finden, vergessen allzu leicht, dass hier nicht ethno-nationalistische Ziele beschworen werden. Im Gegenteil: Es geht um die Versöhnung verschiedener Gruppen in einem Staat, um eine vielfarbige Regenbogennation, wie die Südafrikaner sagen. Ein solcher Staat ist das Gegenteil dessen, was wir in Europa herkömmlich unter Nationalstaat verstehen. Ein Vielvölkerstaat, wie ihn die Südafrikanische Republik darstellt, war gerade nicht das Leitbild, sondern das Feindbild des europäischen Nationalismus, der auf die ethnische Emanzipation und die Eigenstaatlichkeit von Völkern gerichtet war. Daher ist Nation-Building in Südafrika ein Projekt der Versöhnung und das Gegenteil der historischen Nationenbildung in Europa, die ja gerade mit der Zerstörung von Vielvölkerstaaten einherging. Das alte Apartheid-Regime verhielt sich ethno-nationalistisch als es geschlossene Homelands für die einzelnen Ethnien auswies, während das neue Südafrika dabei ist eine von Freizügigkeit und ethnischer Vielfalt gekennzeichnete Willensnation zu schaffen.
Verfassungskonsens und und Nation-Building
Versöhnung durch Nation-Building und mit ihr die Einrichtung eines auf Mehrheitsdemokratie und gleichen individuellen Bürgerrechten gegründeten Verfassungsstaates ist gleichwohl nicht unproblematisch. Dieser Prozess befördert fast unausweichlich die Herausbildung einer Mehrheitskultur. Nationenbildung läuft dadurch Gefahr, die Versöhnung zwischen Bevölkerungsgruppen zu konterkarieren. Das Ziel nationaler Einheit kann leicht mit der Vielfalt von Sprachen, Religionen, Gebräuchen und Umgangsformen in Konflikt geraten. Daher stellt sich bei der Verfassungsgebung zwangsläufig die Frage nach der Etablierung von Gruppenrechten für Minderheiten. Auch diese Frage verweist auf die Grenzen einer lediglich formalen Friedensordnung. Probleme werden dann sichtbar, wenn im Fall tiefgehender ideologischer, religiöser oder sprachlicher Trennungslinien – die mit einem Friedensschluss ja nicht einfach verschwinden - das institutionell verfasste politische Gemeinschaftshandeln auf eine kulturelle Verständigungsbarriere stößt oder ein offener Konflikt zwischen dem universalistischen Anspruch der Verfassungsordnung und dem Anspruch partikularer Teilkulturen auftritt.
Auch hier zeigt sich: Der Verfassungsfrieden hat politische, legale und kulturelle Voraussetzungen, die durch das Vorhandensein demokratischer, insbesondere mehrheitsdemokratischer Verfahren nicht hinreichend erfüllt sind. Gravierend wird das Problem dann, wenn sich in kulturell segmentierten Gesellschaften strukturelle ethnische Mehrheiten in einer politischen Partei organisieren. Dann sind Regierungswechsel nicht mehr möglich und es bleiben Minderheiten dauerhaft von der Regierung ausgeschlossen. Das pluralistische Ideal des in einem freien Gruppenwettbewerb erreichbaren gesellschaftlichen Interessenausgleichs setzt vielfach überlappende Zugehörigkeiten und eine gewisse Durchlässigkeit und Mobilität über Gruppengrenzen hinweg voraus. Diese Voraussetzung ist in Gesellschaften mit verfestigten und sich wechselseitig verstärkenden sozialstrukturellen, kulturellen und religiösen Spannungslinien nicht gegeben.
Die neuerdings auch in westlichen Industriestaaten unter dem Begriff „cultural pluralism“ diskutierte Einführung von Gruppenrechten erscheint ambivalent, weil sie nicht nur Ausdruck von Versöhnung und friedlicher Koexistenz sind, sondern gesellschaftliche Spaltungen vertiefen können. Gruppenrechte sind nur dann unproblematisch wenn sie auf ganz bestimmte Bereiche begrenzt bleiben und das Prinzip gleicher politischer Beteiligungschancen nicht verletzen. Dies trifft dann zu, wenn benachteiligte oder sich als benachteiligt sehende Gruppen kompensatorische Maßnahmen in bestimmten, in der Regel ökonomischen und alltagsweltlichen Lebensbereichen zur Aufhebung solcher Nachteile fordern. Die südafrikanische Politik des Black Empowerment wäre dafür ein Beispiel. Bei der Anerkennung der Gültigkeit von islamischem Recht für die Angehörigen islamischer Glaubensgemeinschaften wäre ich dagegen schon skeptisch, weil Rechtspluralismus die Fähigkeit zu verbindlicher Konfliktregelung generell einschränkt.
Höchst problematisch wird es dann, wenn Angehörige von Minderheiten die Transformation kultureller Differenz in politische Differenz fordern, wobei diese Forderung regelmäßig mit der nach politischer Autonomie und Selbstregierung oder nach Sonderrechten im Sinne eines ethnischen Pluralismus einhergeht. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die räumliche Konzentration solcher Bewegungen. Territoriale Abgeschlossenheit und Unterrepräsentation im politischen System versetzt solche Gruppen leicht außerhalb der Rahmenvorgaben des konstitutionellen Verfassungsfriedens. Die Vorstellung einer auf gleichen, verfassungsmäßig garantierten Bürgerrechten gegründeten politischen Gemeinschaft und die Etablierung spezieller Minderheitenrechte bilden einen Gegensatz, der im Verlauf von Versöhnung und Verfassungsgebung eine mehr oder weniger große Rolle spielt und in sich die Gefahr neuer Konflikt birgt.
Wie weit muss Versöhnung gehen, um zu einem stabilen Verfassungsfrieden beizutragen? Versöhnung und Vergebung bedeutet nicht, dass ein Konflikt beendet ist, sondern bezieht sich vor allem auf einen Akt der Anerkennung. Es gibt nach wie vor sehr tiefgehende Konflikte zwischen Schwarzen und Weißen in Südafrika, die nahezu jede Maßnahme der Regierung und jede Parlamentsdebatte dominieren. Insofern ist Konfliktlösung, „Conflict Resolution“ nicht das Ziel von Versöhnung. Versöhnung bedeutet in erster Linie eine Verständigung über Vergehen der Vergangenheit, die eine Anerkennung der Opfer von Gewalt und ihrem Leiden einschließt. In diesem Sinne sind sie eine Voraussetzung künftiger Zusammenarbeit.
Das übergeordnete Ziel ist nicht die Lösung eines spezifischen Konfliktes, sondern die umfassende Systemtransformation hin zu einem stabilen Verfassungsfrieden. Der Weg dorthin verlässt, je weiter er fortschreitet, die enge, an einem spezifischen Konfliktgegenstand orientierten Markierungen und bewegt sich auf ein System umfassender Konfliktregelungsinstitutionen hin. Wie letztendlich eine politische Verfassung im Detail konstruiert sein sollte, damit sie den Bedürfnissen eines Landes mit spezifischen sozialen Spannungslinien gerecht wird – das Verhältnis von Zentralgewalt und dezentraler Autonomie, das Verhältnis von Individuellen Bürgerrechten und kulturellen Gruppenrechten, die Ausgestaltung eines Wahlsystems, die Mechanismen der Regierungsbildung – all diese Probleme sind damit noch nicht gelöst. Ihre Lösung erfordert fundierte wissenschaftliche Analyse und Beratung. Eine wohl konstruierte politische Verfassung ist die entscheidende Erfolgsvoraussetzung von demokratischen Transformationsprozessen. Ebenso entscheidend ist aber der auf Versöhnung gegründete gesellschaftliche Grundkonsens. Ohne ihn erscheint selbst die beste Verfassung nutzlos. Versöhnung und Verfassung sind in diesem Sinne wie zwei Seiten einer Medaille.
Erinnerung
Eine gebrochene Geschichte (fractured histories), wie sie in Ländern mit häufigen Regimewechseln vorherrscht, stellt besondere Probleme an die Geschichtsschreibung und Erinnerung. Die nationale Vergangenheit, die doch nach geläufigem Verständnis der Selbstvergewisserung und Identifikation dienen soll, wird hier selbst zum Konfliktfall. Kaum ein anderes Land hat damit mehr Erfahrungen als Deutschland mit seinen fortlaufenden politischen Umbrüchen. Seit der Reichsgründung im Jahre 1871 erlebten die Deutschen fünf Regime und entsprechende Regimewechsel. Auf den Wilhelminischen Obrigkeitsstaat folgte eine in der Bevölkerung halbherzig akzeptierte in ihren verfassungspolitischen Grundzügen defekte Präsidialdemokratie, die von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft endgültig zerstört wurde. Es folgten eine liberal-demokratische, parlamentarische Demokratie in Westdeutschland und ein sozialistisches System in Ostdeutschland. von 1949 bis 1989 währende deutsche Zweistaatlichkeit, gab es zwei Staats- und Gesellschaftsordnungen auf deutschem Boden: die kapitalistische im Westen und die sozialistische im Osten. Durch sie wurde der innergesellschaftliche Klassenkonflikt, an dem die Weimarer Republik gescheitert war, zu einem Konflikt zwischen Ost- und Westdeutschland. Die sich entwickelnde Berliner Republik des 1990 vereinten Deutschlands leidet weiterhin unter dieser ökonomisch und politisch fortbestehenden Absonderung. Sie kann im Übrigen, nicht zuletzt wegen eines fortlaufenden Souveränitätstransfers an die Europäische Union, als ein weiterer, neuer Regimetyp verstanden werden.
Länder, deren Kriege, Kolonialeroberungen und Regimeentwicklungen von weniger innergesellschaftlichen Spaltungen begleitet waren, wie zum Beispiel in Japan oder Großbritannien, waren in ihrer Geschichtsschreibung weit geringeren Spannungen ausgesetzt als solche mit einem gebrochenen Geschichtsverlauf. Auch sie sind jedoch gelegentlich auf äußeren Druck gestoßen, ihre Geschichtsschreibung zu revidieren. Dies wird gegenwärtig an der Kritik der Chinesischen und Koreanischen Regierungen an der japanischen Vergangenheitspolitik oder afrikanischer Staaten am britischen Kolonialismus erkennbar.
Südafrika ist hinsichtlich seiner mehrfach gebrochenen Geschichte in mancherlei Hinsicht mit Deutschland vergleichbar. Das Land betreibt heute eine Erinnerungspolitik, die den Feldzügen gegen die Zulunation, der Auslöschung der Urbevölkerung in der Kapregion, der Sklaverei und Entrechtung der kapmalaischen Bevölkerung, den Gräueln des Burenkrieges, dem Landraub der Kolonisten, fortlaufenden Zwangsumsiedlungen und den Verbrechen des Apartheitregimes gleichermaßen gerecht werden möchte. Die damit einhergehende Hoffnung, dass politische Integration, positive Identitätsbildung und Selbstvergewisserung gerade durch gesellschaftliche Lernprozesse im Umgang mit einer gebrochenen Vergangenheit gefördert werden, erscheint gerechtfertigt. Zugleich besteht die Gefahr, dass Erinnerungspolitik anstelle kollektiver Läuterung neue Gräben aufreißt oder durch Veralltäglichung ins Banale und Unverbindliche abgleitet.
Ein schonungsloser Tatsachenblick auf die Vergangenheit gelingt erfahrungsgemäß nur aus einer gewissen zeitlichen Distanz. Dafür gibt es sachliche und psychologische Gründe. Die sachliche Aufklärung von Systemunrecht gestaltet sich oft mühsam, nicht zuletzt, weil die schwersten Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen von Unrechtssystemen dem Blick der Öffentlichkeit verborgen bleiben. Wo Einzelheiten zunächst nicht oder nur unzureichend bekannt sind und sich nicht selten gegen Verharmlosung bis hin zur Läugnung behaupten müssen, bilden juristisch und wissenschaftlich abgesicherte Untersuchungen eine wichtige Voraussetzung für Erinnerungspolitik. Die Aufarbeitung der Vergangenheit wirkt schmerzlich auf die Gesellschaft ein. Sie kann – wo sie gelingt – Kräfte für eine Kultur des Erinnerns und des Trauerns freisetzen, die zur Identitäts- und Nationenbildung beiträgt. Vergangenheitspolitik gelingt stets nur, wenn Sie zugleich als Zukunftspolitik begriffen wird, als eine Chance und Anleitung, Konflikte besser zu bewältigen, als es vorangegangene Generationen geschafft haben. Alle Erfahrung zeigt, dass dies nur über lange Zeiträume gelingen kann. Auch dazu ist der Verfassungsfrieden, die konsentierte Selbstbindung an Regeln der Demokratie und der friedlichen Konfliktaustragung eine erste, unverzichtbare Voraussetzung. Nur stabile politische Verhältnisse geben einem Land die Zeit, die es braucht, um sich seiner Vergangenheit in einem umfassenden Sinn zu stellen und sich die historische Wahrheit, so schmerzlich sie auch sein mag, als Fundament für eine bessere Zukunft anzueignen.