Staat und Innenpolitik



Erschienen in: Hilpert, Ulrich / Everhard Holtmann (Hrsg.) 1998: Regieren und intergouvernementale Beziehungen. Opladen: Leske+Budrich, 67-86    PDF: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-322-95102-1_4


Roland Czada

Verhandeln und Inter-Organisationslernen in
demokratischen Mehrebenenstrukturen

Die Voraussetzungen und Praktiken des Regierens haben sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts fundamental verändert. Dies geschah vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und ökonomischer Umbrüche sowie des Wachstums und der fortschreitenden Differenzierung der Staatsorganisation. In diesem Zusammenhang spielten drei Entwicklungen eine besondere Rolle.

 Erstens: Mit der Abnahme autokratischer und zentralistischer Prinzipien des Regierens wuchs die Zahl und innere Differenzierung politischer Organisationen, während zugleich die ideologische Bindung an Organisationsziele und -führungen zumindest in liberal-demokratischen Industriestaaten zurückging. Der politische "Interessentenbetrieb" wurde, wie Max Weber (1926: 32) es voraussah, immer weiter professionalisiert und befindet sich heute in der Hand einer "politischen Klasse" (v. Beyme 1993) von Berufsstellvertretern. Sie sind als Parteileute und Verbandsfunktionäre von Wählern und Mitgliedern mehr oder weniger abhängig. Politisches Handeln ist dadurch mehr denn je als Auftrags- beziehungsweise Stellvertreterhandeln begreifbar.

 Zweitens: Der Ort politischer Entscheidungsfindung ist zunehmend unbestimmbar geworden. Je mehr sich der Staat in Ressorts und die Gesellschaft in funktionale Teilsysteme aufspalten, je mehr Politik im internationalen Rahmen stattfindet, je mehr institutionelle Akteure und Entscheidungsebenen also beteiligt sind, um so so weniger sind die Ergebnisse der Politik einer bestimmten Regierungsinstanz zuschreibbar. Mehrebenenstrukturen führen dazu, daß Regieren vielseitiges Verhandeln voraussetzt, in dessen Verlauf sich Entscheidungen oft auf verschlungenen Pfaden herausbilden. Politisches Handeln ist dadurch mehr denn je als mehrstufiges Kompromißhandeln begreifbar.

 Drittens: Neben der Differenzierung politischer Strukturen und zunehmenden Verhandlungszwängen wuchs auch die sachliche Komplexität von Entscheidungsmaterien. Technische und ökonomische Problemumwelten der Politik erzeugen Unsicherheit, die durch wissenschaftliche Beratung kaum gemildert, in vielen Fragen infolge der Pluralisierung von Expertenwissen sogar weiter gesteigert wird. Probleme der Risikogesellschaft erfordern politische Entscheidungen, für die ausreichende Entscheidungsgrundlagen fehlen. Politisches Handeln ist daher mehr denn je als Handeln unter Unsicherheit begreifbar.

 In folgenden möchte ich diese kurze Charakterisierung heutiger Bedingungen des Regierens vertiefen und daraus einige Folgerungen für die Handlungs- und Problemlösungsfähigkeit der Politik ableiten.1 Dabei werde ich mich insbesondere mit den Wechselwirkungen von Vertretung und Verhandlung als einem Grundproblem des Regierens befassen. Darüber hinaus soll die Frage erörtert werden, inwieweit im Verlauf der Interessenvertretung und der verhandlungsförmigen Interessenvermittlung kollektive Lernprozesse möglich sind, die zu hinreichend adäquaten - nicht optimalen, aber zufriedenstellenden - Problemlösungen hinführen.

 Vertretung und Verhandlung als Ausgangspunkt

 Souveränes politisches Entscheidungshandeln, die Dezision eines obersten Staatsorganes oder einer politischen Verbandsführung, hat den ihr einst zugeschriebenen zentralen Stellenwert verloren. Dafür treten Vertretung und Verhandlung als elementare Erscheinungsformen politischen Handelns in den Vordergrund. Auch die in jüngerer Zeit verstärkt diskutierte Mehrebenenproblematik gehört in diesen Kontext (vgl. Benz 1994, Scharpf 1993, Tsebelis 1990, Putnam 1988). Mit zunehmender vertikaler und horizontaler Politikverflechtung in Mehrebenensystemen kann Politik nur noch auf dem Verhandlungsweg gemacht werden.

 Dieser Situation angemessene verhandlungstheoretische bzw. spieltheoretische Analysen gewinnen ihre politikwissenschaftliche Erklärungskraft aus der Existenz dauerhaft institutionalisierter Interessenlagen. Nur wenn diese Voraussetzung erfüllt ist kann man zum Beispiel von den Interessen der reichen Bundesländer, der Bundesbank, eines Ministeriums oder einer Gewerkschaft sprechen, ohne jeweils die Binnenorganisation dieser korporativen Akteure in den Blick zu nehmen oder gar aufwendige Motivforschung betreiben zu müssen.

 Tatsächlich beruht die Behandlung politischer Mitgliederorganisationen als korporative Akteure auf einer Akteurfiktion, denn diese Organisationen sind selbstredend intern differenziert, oft auch stark konfliktbeladen und nicht in der Weise zu strategischem Handeln fähig, wie dies gängige Akteurtheorien voraussetzen.2 Sie genügen vor allem nicht den üblichen Prämissen des methodologischen Individualismus. Ihre Präferenzordnungen sind nicht konsistent; die Bedingungen der Reflexivität, Transitivität und der Vollständigkeit (Zintl 1997: 36ff.) sind nicht oder nur unvollständig gegeben. Wie weit sie erfüllt sind, hängt von der Binnenorganisation, also von Delegations- und Vertretungsverhältnissen in politischen Verbänden ab. Damit kann auch rationales, nutzenmaximierendes Verhalten und strategische Interaktion bei korporativen Akteuren nicht umstandslos vorausgesetzt werden. Wenn die Mitglieder einer Organisation intern zerstritten und die Vertretungsverhältnisse unklar sind, wird der Akteurstatus dieser Organisation als Ganzes fragwürdig. Dies gilt noch mehr, wenn Organisationsziele nicht mehr klar erkennbar sind. Solange Gewerkschaften für höhere Löhne, die Bundesbank für stabiles Geld oder die Müllabfuhr für eine saubere Stadt agieren, erscheinen verhandlungs- und spieltheoretische Analysen unproblematisch. Wenn allerdings Zielverschiebungen stattfinden - sei es aus äußeren Vernetzungen resultierend oder aus dem inneren Mitgliedschaftsverhältnis - muß zwingend Organisationsforschung betrieben werden.

 Demokratische, auf Wahl des Führungspersonals basierende politische Akteure unterliegen besonderen Handlungsschranken, weil hier der Kollektivwille aufgrund von Wahlverfahren zyklisch schwanken kann (Jansen 1997: 206-212). Besteht außerdem bei freiwilliger Mitgliedschaft eine Austrittsoption, so sind Organisationseliten zusätzlich an die Bedürfnisse der Organisationsmitglieder gebunden. Wahlen und Austrittsmöglichkeiten stärken den Vertretungsaspekt politischen Handelns. Ein Großteil politischer Veränderung resultiert primär nicht aus Verhandlungen zwischen korporativen Akteuren sondern aus binnenorganisatorischen Vorgängen, insbesondere Konflikten zwischen Mitgliedergruppen. Diese können endogen verursacht und aus der Organisationsgeschichte erklärbar sein, oder sich in Abhängigkeit von dynamischen Problemumwelten, d.h. in der Auseinandersetzung mit Sachproblemen und ihren Lösungsmöglichkeiten, einstellen. Politische Vertreter stehen in dieser Situation unter einem doppelten Kompromißzwang: binnenorganisatorisch zur Schaffung und Bestätigung eines Vertretungsauftrages, nach außen zur Interessenvermittlung mit anderen Organisationen. Wechselseitige Abhängigkeiten bis hin zur institutionellen Verflechtung politischer Handlungsfelder - etwa zwischen Bund, Ländern und der europäischen Ebene der Politikentwicklung - erzeugen Abstimmungsbedarf und Verhandlungszwänge; und zwar um so mehr, als es sich um selbständige, durch institutionelle Bindung oder Problemumwelten zu gemeinsamem Handeln gezwungene politische Instanzen handelt. Davon bleiben wiederum die Repräsentations- und Kontrollmechanismen im Vertretungsverhältnis politischer Gemeinschaften nicht unberührt. Es ist anzunehmen, daß diejenigen, die in Verhandlungen vertreten werden, den Gang und das Ergebnis von Verhandlungen mit einer Bewertung der von ihnen beauftragten Unterhändler verbinden werden. Wie dies geschieht ist nicht zuletzt eine Frage institutioneller Strukturen, die unterschiedliche Grade der Öffentlichkeit, Kontrolle und Sanktionierung von Stellvertreterhandeln vorsehen.

Je mehr Verhandlungen zwischen Vertretern stattfinden und je mehr Ebenen davon betroffen sind, desto größer sind die Anforderungen, denen jeweilige Legitimations- und Kontrollstrukturen genügen müssen. Die Politikentwicklung in Mehrebenensystemen steht insofern vor einem verschärften Problem der Kontrolle von Beauftragten durch ihre Auftraggeber. Auf die Substitution von Kontrolle durch Vertrauen zu hoffen, erscheint in dieser Lage aussichtslos, weil Vertrauen in mehrstimmig konstruierten und daher undurchsichtigen Vertretungsverhältnissen schwer zu gewinnen sowie gegenüber materiellen Leistungseinbrüchen leicht verletzlich ist. Eine für herkömmliche parlamentarische Systeme durchaus erklärungskräftige Variante der Demokratietheorie, die generalisiertes Vertrauen als wirksame und in Wettbewerbsdemokratien vergleichsweise leicht mobilisierbare Ressource ausweist (Parsons 1952, Luhmann 1969) scheint damit auf Mehrebenensysteme nicht ohne weiteres anwendbar.

 Mit der vertikalen und horizontalen Differenzierung politischer Handlungsfelder wächst die Zahl der Auftragsverhältnisse, und es entstehen mehrstufig verkettete Strukturen, in denen Akteure oft zugleich die Rollen von Beauftragten und Auftraggebern einnehmen. Daraus kann Vertrauensverlust folgen. Notwendig folgen daraus aber Kontrolldefizite, die sich in Steuerungsproblemen, in letzter Instanz aber in schwindender Verantwortungszuschreibung und als Demokratieverlust äußern (Scharpf 1993).

 Die Forderung nach demokratischer Selbstbestimmung und die Koordinationserfordernisse einer zunehmend interdependenten Welt bilden einen Gegensatz, der sich zu verschärfen droht. Auf mehr Partizipation und unmittelbare Kontrolle von Regierungshandeln zielende Vorschläge lösen das Problem nicht, sondern können es sogar weiter verschärfen, insbesondere wenn der demokratische Egoismus politischer Verbände die Chancen von Verhandlungslösungen schmälert. Andererseits bedeutet Partizipation immer auch Einbindung, von der eine gewisse äußere Verpflichtung ausgeht. Die Mitbestimmung von Arbeitnehmern in Aufsichtsräten und auf betrieblicher Ebene verpflichtet deren Vertreter, die Interessen ihrer Unternehmen zu berücksichtigen. Im Fall der Kooptation von Interessenten und Betroffenen befinden sich Unterhändler stets in einer zweiseitigen Abhängigkeit: Die Pflicht zur Rechenschaft gegenüber eigenen Auftraggebern wird mit derjenigen gegenüber den Unterhändlern anderer Auftraggeber verbunden (Saladin 1984). Es ist der Zwang zu gegenseitiger Berücksichtigung und die Entstehung interorganisationeller Kontrollstrukturen, durch die Kooptation nicht selten auf Zielverschiebungen bis hin zu dauerhaften Präferenzänderungen innerhalb der beteiligten Organisationen hinausläuft.

 Diese zweiseitige Verpflichtung kann als eine typische Handlungsbedingung von politischen Akteuren in Mehrebenensystemen verstanden werden. Sie erhöht die Stabilität und Berechenbarkeit politischer Strukturen. Die Mehrfachabhängigkeit politischer Vertreter fördert auch, wie ich im folgenden zeigen möchte, deren Kompromißfähigkeit und Bereitschaft zu Lernen. Mehrebenensysteme erscheinen insofern grundsätzlich geeignet, soziale Bindungen und ausgeglichene Politikergebnisse herzustellen. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob dies für komplex verschachtelte, vielstufige Strukturen ebenso gilt wie für einfache zweistufige Repräsentationsverhältnisse. Hinzu kommt eine weitere Frage nach dem Zusammenhang von Interessenausgleich und der sachlichen Angemessenheit beziehungsweise dem Problemlösungsbeitrag von Entscheidungen. Wenn Mehrebenenstrukturen die Kapazität zur politischen Konfliktregelung erhöhen, muß dies nicht zugleich bedeuten, daß dadurch auch die tatsächlichen Probleme besser gelöst würden, als dies in weniger komplexen politischen Strukturen, etwa unter Beibehaltung souveräner Nationalstaaten der Fall wäre.

 Machtstruktur und Lernperformanz in Mehrebenensystemen

 Mehrebenensysteme können je nach ihrer Verfassung in unterschiedlichem Ausmaß gewaltenteilige oder gewaltenverschränkende Gebilde darstellen. In jedem Fall aber wird durch sie die Machtposition einzelner Akteure beschnitten. Es handelt sich um ein "Kontroll- und Abstützungsgefüge" (Stern 1974: 25), das Macht begrenzt und - da sie institutionell eingebettet ist - ebenso abstützt.3 Wenn Macht die Fähigkeit bedeutet, nicht lernen zu müssen (Karl W. Deutsch), dann erscheinen Mehrebenenstrukturen zur Anregung von Lernprozessen besser geeignet als ein System von souveränen Alleinentscheidern. Ob dies tatsächlich so ist, hängt davon ab, wie weit der Zwang zur Rücksichtnahme in Verhandlungen neue Einsichten und Möglichkeiten der Problemlösung eröffnet, die in anderen Interaktionsformen nicht erreichbar sind.

 Alleinentscheider - idealtypisch: strategische Akteure in einer spieltheoretischen Situation - lernen durch Belohnung und Bestrafung. Als erfolgreichste Strategie in einem wiederholten (iterierten) "Gefangenendillema" hat sich in einem Computerexperiment die Handlungsregel "Tit for Tat" herausgestellt (Axelrod 1987). Dabei wird Kooperation mit Kooperation und Defektion mit Defektion beantwortet. Wird der Zug eines Akteurs belohnt, verstärkt dies seine einmal gewählte Handlungsorientierung, wird er bestraft, führt dies sofort zur Umorientierung. Das Kennzeichnende dieser Strategie sind eine steile Lernkurve und die hohe Wahrscheinlichkeit eigendynamischer Prozesse. Die Akteure lernen - jeder für sich - sehr rasch und sie erzeugen dadurch kollektive Prozesse, die - sobald es sich um größere Populationen handelt - nicht mehr kontrollierbar sind. Wenn sich in einer von Kooperation geprägten Population nur ein Akteur von der kooperativen Haltung lossagt, kann dies - sofern sich ihm andere bis zum Erreichen einer kritischen Masse anschließen - die Kooperationsbereitschaft aller zum Erliegen bringen. Unverbundenes, auf kurzfristige Vorteile ausgerichtetes individuelles Lernen erzeugt auf diese Weise zwar raschen Wandel, schwächt aber zugleich den Zusammenhalt in einem Akteursystem bis hin zur Zerstörung dieses Zusammenhalts (Czada 1995: 315-318).

 In überschaubaren Zusammenhängen, etwa in einem bikameralen System oder bei der "negativen Koordination" (Mayntz/Scharpf 1973: 136-139) von Regierungsressorts, sind eigendynamische Prozesse der beschriebenen Art kaum zu befürchten. Im System der deutschen und mehr noch der europäischen Politikverflechtung könnten sie indessen leichter auftreten. Die große Zahl von Interaktionen zwischen einer Vielzahl unterschiedlichster Akteure kann als politisches Entscheidungsystem kaum noch überblickt und als Ganzes gestaltet werden. Folglich ist nicht verwunderlich, daß die europäische Politikentwicklung oft verschlungene Wege geht und ihre Ergebnisse von ungleichen Chancen der Interessenberücksichtigung oder gar von Zufällen geprägt sind (Héritier et.al. 1994).

 In vielen Politikbereichen der Bundesrepublik sind inzwischen 33 Regierungen und eine Quasi-Regierung an der Politikentwicklung beteiligt: die Bundesregierung, 16 Länderregierungen, die Europäische Kommission als Quasi-Regierung und 16 im Ministerrat vertretene europäische Regierungen. Dieses System ist für einzelne beteiligte Akteure tatsächlich kaum noch überschaubar. Gleichwohl ist es in seinen Entwicklungen immer noch berechenbarer als ein System unumschränkter, institutionell unverbundener Staaten. Berechenbarkeit resultiert hier aus der Kenntnis institutioneller Begrenzung und wechselseitiger Verpflichtung der Akteure. Ohne geeignete institutionelle Bindeglieder zu anderen Staaten wären die europäischen Regierungen zwar in ihrer Entscheidungsfreiheit weniger eingegrenzt, zugleich aber höherer strategischer Unsicherheit ausgesetzt, als sie es ohnehin schon sind. Diese Konstellation getrennter Akteure kann sachadäquate Problemlösungen ebenso behindern wie die potentiellen Pathologien verflochtener Entscheidungsstrukturen. Die europäische Geschichte und namentlich ihre Staatenbeziehungen bieten gerade hierfür reiches Anschauungsmaterial. Die institutionelle Verklammerung und Verständigungsorientierung der europäischen Staatengemeinschaft kann in dieser Hinsicht durchaus als ein schmerzliches Lernen aus historischen Katastrophen betrachtet werden.

 Verständigungsorientierung und Policy-Lernen

 Die integrative Wirkung von europäischen Institutionen erscheint angesichts der von Intradependenz und Interdependenz gekennzeichneten Nationalstaaten als eine Voraussetzung von Regierbarkeit, und zwar vor allem auf nationaler Ebene. Das Lamento über die fehlende Effektivität internationaler Regime und Verflechtungsphänomene übersieht meist, daß internationale Institutionen auch auf nationaler Ebene Handlungsspielräume konstituieren, die ohne solche Verflechtungen nicht gegeben wären. In zahlreichen Politikfeldern - von der Börsen- und Bankenregulierung (Lütz 1997) über die Telekommunikations- (Schneider 1995) und Medienpolitik bis zur Verbrechensbekämpfung und inneren Sicherheit (Nadelman 1993) - sind wesentliche Policy-Innovationen der letzten Jahrzehnte von Einwirkungen aus dem internationalen Bereich intergouvernementaler Zusammenarbeit ausgegangen. Solche Einwirkungen enthalten durchaus hierarchische Elemente, wenn zum Beispiel die USA ihre Konzepte der Finanzmarktregulierung oder Rauschgiftbekämpfung anderen Regierung mit sanftem Druck aufzwingen.

Neu- und Umorientierungen gehen von internationalen Regimen und Konferenzen, Personalaustausch-Programmen, Regelvereinheitlichungen und ähnlichen, wesentlich von Interaktion getragenen Prozessen aus. Wenn Verhaltensweisen und Regeln aufeinander abgestimmt und in der Praxis erprobt werden, kann durchaus von Lernprozessen gesprochen werden. Der Begriff des "Lernens" schließ ja Mechanismen von Belohnung und Bestrafung in Beziehungsnetzwerken keineswegs aus. Im Gegenteil: Inter-Organisationslernen beruht wie jedes Lernen auf Mechanismen der Verstärkung und Schwächung bestimmter Handlungsalternativen durch äußere Einwirkung.

 Fraglich ist allerdings, in welcher spezifischen Weise und mit welchen Ergebnissen vernetzte, intergouvernementale Entscheidungsstrukturen Veränderungen bei der Auswahl von Handlungsalternativen in Gang setzen können. Zunächst einmal geht es hier um "Policy-Lernen", das zu neuen sachlichen Problemlösungen führt. Policy-Lernen ist definiert als ein "von relativ dauerhaften Veränderungen des Denkens oder verhaltensrelevanter Intentionen begleiteter Prozeß, der von Erfahrungen ausgeht sowie die Beibehaltung oder Revision von Richtgrößen der Glaubenssysteme von Individuen oder Kollektive" beeinhaltet" (Sabatier 1993a: 42). Policy-Lernen wird von Sabatier aufgrund empirischer Forschungen zum einen als ein Prozeß individueller Auseinandersetzung mit einer unbekannten Problemumwelt betrachtet. Zum anderen handelt es sich um einen Interaktionsprozeß, in dem Befürworter bestimmter Ziele und Problemlösungen untereinander und mit den Befürwortern anderer Ziele und Lösungen zusammentreffen. Dabei sind die Chancen zur prinzipiellen Neuorientierung von handlungsleitenden "Glaubenssystemen" (belief-systems), also von Kernüberzeugungen (core-beliefs) eher gering einzuschätzen. Gleichwohl sind am Rande von Kernüberzeugungen und in unmittelbarer Konfrontation mit den Problemen vor Ort, Lernprozesse wahrscheinlich, die über kurz oder lang auch Kernüberzeugungen tangieren können (vgl. Sabatier 1993b).

 Vor allem Habermas (1987) beansprucht, die an diskursive Auseinandersetzungen zwischen Akteuren gebundene Herausbildung von Handlungsorientierungen aufzuzeigen und ein in vielen Handlungstheorien inhärent angelegtes monadisches Rationalitätskonzept verständigungsorientiert auszuweiten. Der "Begriff des kommunikativen Handelns (...) bezieht sich auf die Interaktion von mindestens zwei sprach- und handlungsfähigen Subjekten, die (...) eine inter-personale Beziehung eingehen. Die Aktoren suchen eine Verständigung über die Handlungssituation, um ihre Handlungspläne und damit ihre Handlungen einvernehmlich zu koordinieren" (Ebenda, 128). Obgleich von individuellen Akteuren die Rede ist, läßt sich die Aussage auf die Ebene korporativer Akteure übertragen, wenn man die Logiken von Vertretung und Verhandlung in das Habermassche Konzept integriert. Im Kontext von Vertretung und Verhandlung sind es ja stets individuelle Akteure, die in und/oder für Korporationen handeln. Ihr Handeln ist korporativ soweit es in der geschilderten Weise der Logik von Vertretung und Verhandlung im Rahmen organisatorischer Vorgaben wie zum Beispiel Satzungen unterworfen ist. Organisationslernen ist demnach nicht anderes als das binnenorganisatorisch und interorganisatorisch vernetzte Lernen von Individuen.

 Die Bildung von Präferenzordnungen, die Interpretation von Situationen, die Wahl der Mittel und die Herausbildung und Befolgung von Normen können in einem einzigen kommunikativen Akt stattfinden. Ob dabei die Verständigungsorientierung eine spezifische kommunikative Ethik voraussetzt oder von dem Ziel der eigenen Interessenbefriedigung ausgeht, ist nicht zuletzt eine empirische Frage. Zumindest kann man sich verständigungsorientiertes Zusammenwirken in jeder, auch konfrontativen sozialen Interaktion vorstellen. Selbst in Kriegen haben sich zwischen Soldaten über die Fronten hinweg immer wieder implizite Verständigungen und verläßliche Kooperationsformen herausgebildet, denen die Oberkommandos durch die Umsetzung von Truppen in wechselnde Frontabschnitte entgegenwirkten (Axelrodt 1987: 67-79). Verständigungsbereitschaft basierte hier auf einer Strategie der Risikominimierung; zum Beispiel des Risikos zu Essens- oder Schlafenszeiten von einem feindlichen Angriff überrascht zu werden. Je länger sich gleiche Truppen gegenüberlagen, desto umfangreicher wurde über Kampflinien hinweg die Koordination der Kriegführung.

 Verständigungsorientierung ist also nicht notwendigerweise ein Produkt der Suche nach wohlfahrtsökonomisch rationalen Problemlösungen, sondern kann auf ganz egoistische Motive rationaler Interessenbefriedigung zurückgehen. Und ebenso können Lernprozesse nur ein Nebenprodukt von Interessenpolitik sein, statt durch Einsicht in überindividuelle Zusammenhänge bewirkt zu werden.4 Je mehr Interessen und Handlungsmotive nicht monadisch abgeschlossen sind, sondern mit denen anderer Akteure überlappen sowie von Interaktion beeinflußt sind, desto mehr bleiben sie für soziale Lernprozesse offen. Dabei können überlappende Interessen ganz abstrakt gefaßt sein - z.B. Sicherheit, Ruhe, Handelsfreiheit - und mit konkreten Interessengegensätzen durchaus koexistieren.5 Gemeinsame Interessen sind nun insbesondere dort zu vermuten, wo Unsicherheit herrscht und gemeinsames Handeln diese Unsicherheit vermindern kann. Risikominimierung ist der Urgrund jeder Rechtsgemeinschaft, des Eigentums und aller Formen der "sozialen Schließung", in denen sich Gegner "unbeschadet ihrer fortdauernden Konkurrenz untereinander" (Weber 1972: 201) zusammenschließen. Wenn Gegner auf diese Weise lernen, sich über die Regelung ihrer gemeinsamen Angelegenheiten zu verständigen, hat dies natürlich noch keinerlei universalistischen Anspruch, sondern kann durchaus gegen außerhalb dieser Abmachung Stehende gerichtet sein. Wieweit hier die Grenzen gefaßt sind, und wo sie verlaufen, ist eine empirische Frage, die wohl damit zu tun hat. innerhalb welcher Grenzen die jeweiligen Akteure ihre Sicherheits- und Entfaltungsbedürfnisse am ehesten verwirklicht sehen. Soziales Lernen und universalistische Kategorien kommen erst dadurch ins Spiel, daß politische Akteure im Prozeß ihrer Vernetzung und Vergemeinschaftung nicht mit objektiven Sachverhalten operieren können, sondern zu Deutungen gezwungen werden, die sie erfolgreich nur in wechselseitiger Beobachtung und im Verkehr untereinander leisten können: Sie näheren sich der sozialen und sachlichen Wirklichkeit durch Interaktion und gewinnen dabei Sicherheit bei der Bewältigung ihrer Probleme (vgl. Sabel 1994).

 Sachliche und strategische Unsicherheit

 Als eine eigennützige Strategie zur Risikominimierung ließe sich auch die Kooperation politischer Akteure in Mehrebenensystemen vorstellen. Je größer die sachliche Unsicherheit über die adäquate Lösung von Problemen wird, um so eher werden politische Akteure ihre strategische Unsicherheit im Umgang untereinander zu minimieren suchen. Die geeigneten Mittel, sich gegen strategische Unsicherheit abzusichern sind Dialog und Vernetzung. Nur solche korporativen politischen Akteure (Parteien, Verbände Regierungen), die keine sachliche Unsicherheit erfahren, weil sie sich im Besitz einer unumstößlichen Wahrheit wähnen, können sich demnach auf Strategien der Dissoziation und Konfrontation einlassen.

 Die Wechselbeziehung von sachlicher Unsicherheit in der Problemumwelt und strategischer Unsicherheit im Akteursystem ist hier entscheidend. Unter dem Eindruck von Überforderung und wechselseitiger Abhängigkeit erleben politische Akteure das policy-making als einen Kampf an zwei Fronten. Um gegen die von irreduziblen Risiken beherrschte dynamische Natur von ökonomischen und sozialen Problemlagen bestehen zu können, entlasten sie sich durch die Schaffung und Erhaltung kooperationsfreundlicher Strukturen, die strategischer Unsicherheit entgegenwirken.

 Daraus ließe sich - in spieltheoretischer Sprache - die generelle Hypothese einer Drift zur Kooperation in verbundenen Spielen ableiten, die zugleich gegen die "Natur" und andere "Spieler" gespielt werden. Die theoretisch gut begründbare Gefahr einer "Politikverflechtungsfalle" (Scharpf 1985) könnte dann allein deshalb nicht im erwarteten Maß wirksam werden, weil das Bewußtsein dieser Handlungsrisiken den Konflikt der Akteure mindert und Verständigungsbereitschaft auslöst. Dieses Szenario erscheint besonders dann wahrscheinlich, wenn die Rückfallposition, d.h. die Lage, die bei Nichtkooperation eintritt, ungünstiger oder als mit größeren Risiken behaftet wahrgenommen wird als eine kooperative Problemlösung.

 Das nutzentheoretische Handlungsmodell mag auf diese Weise einen Großteil des politischen Handelns erklären können. Nullmeier (1993: 176) wendet allerdings dagegen überzeugend ein, daß handlungsleitende Interessen nur als akteureigene Interpretationskonstrukte wirksam werden: Handlungsleitend ist z.B. nicht die - von der Politikwissenschaft konstatierte - Verfügung über Machtressourcen, sondern das Wissen der Akteure über die Verteilung von Handlungsressourcen. Der Raum erreichbarer Handlungsalternativen ist nicht institutionell, ökonomisch und sozial-strukturell vorgegeben; er muß durch Deutungsleistungen der Akteure selbst konstruiert werden.

 Hier stellt sich nun die Frage, wie politische Akteure diese Deutungsleistung erbringen. Inwieweit ist der Deutungsvorgang monologisch auf den einzelnen Akteur begrenzt und dabei von rationalen Eigeninteressen gesteuert? Welche Rolle spielen demgegenüber rhetorische Diskurse und daraus abgeleitetes geteiltes Wissen, an dem alle in einem Politikfeld tätigen Akteure ihr Handeln orientieren? Im zweiten Fall des gemeinsamen Wissens verlöre der Gegensatz zwischen einem objektivistischen und einem interpretativen Handlungskonzept einiges von seiner Brisanz. Sind die Ressourcenverteilung, die institutionellen Regeln und situativen Rahmenbedingungen des politischen Handelns allen Beteiligten gleichermaßen bekannt und externen Beobachtern, z.B. einem Forscher, zugänglich, spielt die Frage nach Deutungsprozessen für die Erklärung von Politiken keine Rolle mehr. Deutungen könnten dann als gemeinsame handlungsleitende Orientierungen leicht ermittelt und unmittelbar in die Analyse von Akteurhandeln einfließen. Tatsächlich können auf diese Weise Handlungsorientierungen korporativer Akteure wie etwa der Bundesbank, einer Gewerkschaft oder einer Partei in Standardsituationen der Geldpolitik oder der Tarifpolitik vergleichsweise leicht rekonstruiert oder sogar als bekannt vorausgesetzt werden (vgl. Scharpf 1987).

 Politische Handlungsfähigkeit basiert auf der Zuschreibung von Handlungskompetenz. Kompetent ist, wen die anderen für kompetent halten, ebenso wie politische Macht oder politischer Einfluß erst durch Macht- bzw. Einflußzuschreibung konstituiert werden. Gerade die genuin politischen Handlungsressourcen werden durch Übereinkunft geschaffen. Wahlergebnisse, Gesetze, Einflußpositionen in informellen Netzwerken sind nicht objektiv gegeben, sondern das Ergebnis sozialen Handelns. Anders ist es mit finanziellen Restriktionen. Das Haushaltsdefizit eines Staates kann nicht durch Übereinkunft beseitigt werden, ebensowenig wie der Erfolg des wirtschaftlichen Aufbaues Ost politisch beschlossen werden könnte. Im Bereich von Wirtschaft und Finanzen liegen daher die tatsächlichen Restriktionen politischen Handelns. Gerade hier müssen aber ideologische Orientierungen versagen, wenn objektive Sachverhalte unumgehbare Fakten schaffen. Deutungsmuster können in diesem Sinne sehr rasch an der Wirklichkeit scheitern. Zudem sind handlungsleitende Deutungen in einer Wettbewerbsdemokratie dem ständigen Zweifel politischer Kontrahenten ausgesetzt. Während zum Beispiel die frühere DDR-Regierung über Jahrzehnte hinweg die sozialistische Planwirtschaft als erfolgreich deuten konnte und diese Deutung sogar in internationalen Zahlenwerten ihren Handelspartnern suggerieren konnte, müssen die politischen Akteure bei Parteienwettbewerb mit Desillusionierung rechnen.

Je unterschiedlichere Akteure an der Politikentwicklung beteiligt sind, desto geringer wird die Gefahr falscher (zur Problemlösung untauglicher) handlungsleitender Deutungen. Damit soll nicht eine objektivistische Sicht des politischen Handelns vertreten werden. Die Wirklichkeit bleibt für die einzelnen Akteure ein subjektives Konstrukt. Gleichwohl wird die Distanz zwischen tatsächlichen Problemlagen, wie z.B. Arbeitslosigkeit, Inflation, Staatsverschuldung und Interpretationen dieser Wirklichkeit um so geringer, je mehr sich subjektive Interpretationen im politischen Prozeß intersubjektiv bewähren müssen. Die Rationalitätsannahmen, die Habermas seiner Theorie kommunikativen Handelns zugrunde legt, erweisen sich damit als durchaus berechtigt. Die divergenten Beziehungen, die politische Akteure zur objektiven, subjektiven und sozialen Welt aufnehmen, sind nicht beliebig. Nur hinreichend rationale Deutungen können im freien Diskurs auf Dauer bestehen.

Objektive Richtigkeit im Einzelfall spielt vor allem dann eine Rolle, wenn sich die Praktikabilität und Konsequenz politischer Maßnahmen rasch und zweifelsfrei erweisen kann. Oft ist aber gerade dies in der Politik erschwert, zum Beispiel weil Wirkungszusammenhänge unklar und für interessengebundene Interpretationen offen sind oder sogar zu beliebigen wechselseitigen Schuldzuweisungen einladen. In dieser Situation spielen soziale Kontroll- und Verantwortungsstrukturen eine wichtige Rolle. Realistischerweise ist anzunehmen, daß der Auftraggeber, also der Wähler bei der Beurteilung partei- und büropolitischer Interpretationen überfordert ist. Vor diesem Hintergrund erscheint der Zusammenhang zwischen vernetzten Entscheidungsstrukturen und politischer Verantwortlichkeit in einem helleren Licht, als dies in der gängigen Literatur mit dem Verweis auf die Gefahr der Verantwortungsverwischung deutlich wird.

 Vernetzung und Verantwortung

 Eine Frage, die an politisches Lernen gestellt werden muß, betrifft das Verhältnis von sachlicher Lernperformanz und Steuerungswissen einerseits und politischer Verantwortlichkeit andererseits. Wie muß politische Verantwortlichkeit beschaffen sein , um eine möglichst hohe Problemlösungskomptenz von Mandatsträgern zu ermöglichen? Ich möchte im folgenden auf den Beitrag der Inter-Organkontrolle für die Entstehung von policies und von politischer Verantwortung hinweisen. Inter-Organkontrolle meint die horizontale, wechselseitige Kontrolle korporativer Akteure im Unterschied zur demokratischen Kontrolle zwischen Wählern und Gewählten und zur hierarchischen Kontrolle zwischen Regierung und ihren Verwaltungspersonal (vgl. Bäumler 1966). Inter-Organkontrolle basiert im Wesentlichen auf äußeren Autonomieschranken, die sich korporative Akteure im politischen Prozeß wechselseitig setzen.

 Das Zusammenwirken innerer Repräsentation und äußerer Autonomieschranken durch Inter-Organkontrolle ist offenbar der Entwicklung von Verantwortlichkeit förderlich. Saladin (1984: 49; vgl. auch Bäumler 1966, 238) argumentiert: Verantwortlich nach innen kann nur handeln, wer auch nach außen Rechenschaft abgeben muß. Diese eigentümliche Wechselwirkung mag damit zu haben, daß effektive Kontrolle im Einzelfall nur zwischen verfassten Organen möglich ist, nicht aber in einem demokratischen Repräsentationsverhältnis. Hier sind die Kontrollmöglichkeiten durch die große Zahl der Auftraggeber (Wähler) und das einer effizienten Vertretung förderliche freie Mandat der Abgeordneten beschränkt. Gleiches gilt für Verantwortlichkeit. Gegenüber der in wechselseitigen Kontrollverhältnissen (Verhandlungssystemen) konstituierten direkten Verantwortlichkeit (zwischen den unmittelbar Beteiligten) kann Repräsentation nur eine von generalisierte Vertrauen bestimmte, abstrakte Verantwortlichkeit von Treuhändern begründen (ebenda). Es gibt offenbar kein funktionierendes Repräsentationsverhältnis ohne Gewaltenteilung, weil die daraus resultierenden externen Kontrollen im Einzelfall nicht intern ersetzt werden können.

 Gewaltenteilung wird hier verstanden als ein institutionell verflochtenes System "des Miteinanders, Nebeneinanders und Gegeneinander unterschiedlichster politischer Kräfte, von Wettbewerb, Kontrolle, Entfaltung von Alternativen und das Wechselspiel von Mehrheit und Minderheit in der politischen Verantwortung, die Eindämmung von Machtmißbrauch und der Trend zu stärkerer Rationalität und Verantwortlichkeit in der Wahrnehmung staatlicher Aufgaben" (Stern 1974). Es scheint, also ob die Kritiker der Politikverflechtung und des Korporatismus die Bedeutung verflochtener Entscheidungsstrukturen als ein "Gegen- oder Abstützungsgefüge" (Stern, ebenda) von Vertretungsverhältnissen übersehen oder vernachlässigt haben - dies immer unter der Voraussetzung, daß ein funktionierendes Repräsentationsverhältnis nicht auf Zustimmung für einzelne Verhandlungsergebnisse angewiesen ist, sondern in weit höherem Maß von generalisierter Zustimmung abhängt.

 Eine Mehrebenenstruktur vermag den Gegensatz von innerer Legitimation und äußerer Handlungsfähigkeit korporativer Akteure abzumildern. In institutionell vernetzten Entscheidungsstrukturen ist die Rechtfertigung von Entscheidungen von der Frage nach ihrer Richtigkeit abgekoppelt. Selbst die Zustimmung zu einer als falsch empfundenen Entscheidungen läßt sich durch den Verweis auf eine institutionell erzwungene äußere Rücksichtnahme rechtfertigen.

 Institutionelle Entscheidungsverflechtung erscheint darüber hinaus als ein funktionales Äquivalent zur Legitimation durch das Verfahren der politischen Wahl. Auch hier wird die Legitimation einer Regierung durch den periodischen Wahlakt von der Frage nach der Richtigkeit ihrer zahlreichen Entscheidungen zwischen den Wahlen entkoppelt (Parsons 1952, Luhmann 1969).Ein spezifisches Merkmal von Mehrebenenstrukturen läge demnach in der relativen Entkoppelung von Prozessen politischer Legitimierung und Konfliktregulierung von einer im Verflechtungsbereich getroffenen sachlichen Letztentscheidung. Legitimation durch demokratische Wahlen und institutionelle Entscheidungsverflechtung stehen insofern in einem Spannungsverhältnis, bilden aber nicht notwendigerweise einen unaufhebbaren Gegensatz. Solche Entkoppelungsvorgänge sind in Politik und Organisationen ubiquitär. Sie finden sich in jedem Auftrags- und Delegationsverhältnis, ob es sich um Mandatsträger und Wähler, Unternehmensvorstände, Aufsichtsräte und Aktionäre oder um Verbandsführer und -mitglieder handelt.

 Wenn Organisations- und Mehrebenenstrukturen die Spannung von Vertretungslogik und Verhandlungslogik mildern können, dann stellt sich auch die Frage, welche organisatorischen Vorkehrungen und institutionellen Rahmenbedingungen für welche Entscheidungsmaterie am besten geeignet sind. Wie muß das Vertretungs- Verhandlungsverhältnis jeweils organisiert sein, um beiden Zielen - möglichst authentische Interessenvertretung und möglichst flexible Chancenwahrnehmung im Einzelfall - hinreichend gerecht zu werden? Hierzu gibt es eine Reihe von Überlegungen, wie man sie insbesondere in Beiträgen über Neokorporatismus und Politikverflechtung findet (Voelzkow 1993). Sie setzen sich in einer spezifischer Weise mit dem Problem der äußeren Koordination und inneren Organisation verflochtener korporativer Akteure auseinander. Ich werde im folgenden versuchen, zur Klärung der Frage beizutragen, wie sich verschiedene Grade wechselseitiger Abhängigkeit korporativer Akteure auf das Verhandeln ihrer Unterhändler auswirken.

 Die These ist, daß institutionelle Entscheidungsverflechtung dazu beitragen kann, Erwartungen im Vertretungsverhältnis besser zu erfüllen und zugleich auf lange Sicht mehr Optionen zur Problemlösung bereitstellt.

 "Subsidiarität" (Zuständigkeitstrennung) ist - so könnte man meinen - das entscheidungseffizientere und demokratietheoretisch überlegene System. Die entsprechende Argumentation zielt auf den Erhalt bzw. die Rückerlangung von "Souveränität" mit der Begründung, diese sei demokratieverträglicher und allokationseffizienter als Kompetenzverflechtung. Dies läuft auf eine Theorie politischer Verfügungsrechte hinaus, die besagt, daß, wer entscheidet, die Folgen dieser Entscheidung verantworten muß. Zweifellos ist die Externalisierung, die Möglichkeit der Abwälzung von Entscheidungsfolgen gemeinwohlschädlich - wie es die public choice und property rights Theorien für ökonomische Eigentumsrechte sehr überzeugend darstellen. Das Postulat der Deckungsgleichheit von Entscheidungskompetenz und Folgenverantwortung läßt sich nun aber gerade aus Repräsentationsverhältnissen nicht ableiten. Im Gegenteil: Es würde jede politische Gemeinschaft stärken, könnte sie ihren Nutzen mehren und die anfallenden Kosten auf andere Gemeinschaften abwälzen. Der souveräne Nationalstaat ist - ebenso wie jede Interessengruppe - bestrebt, die eigenen Existenzbedingungen in Auseinandersetzung mit konkurrierenden Staaten und Kräften zu verbessern. Und dergestalt sind auch die Erwartungen an ihre Vertreter: Nutzen zu mehren und Schaden vom eigenen Volk bzw. der eigenen Gefolgschaft abzuwenden. Von Rücksichtnahme auf andere politische Gemeinschaften ist im Amtseid der Regierenden nicht die Rede.

 Eine implizite Radikalisierung des Gedankens politischer property rights enthält m.E. die klassische amerikanische Pluralismus-Theorie von Bentley und Truman (zumindest in der Form, wie sie von Mancur Olson (1967) interpretiert und modelltheoretisch verwendet wird): Der idealtypische Pluralismus kennt nur one-issue groups, die nach außen ausschließlich ein Sonderinteresse vertreten. Durch die Exit-Option der Mitglieder ist zudem die Verbandsführung an deren Willen gebunden. Pluralistische "pressure groups" sind unumschränkte , demokratiefähige korporative Akteure par excellence. Entsprechend stark ausgeprägt ist der demokratische Egoismus solcher Gruppen - gezähmt nur durch "overlapping memberships" (Truman 1951: 158).

 Im Unterschied zu politisch "inkorporierten" Verbänden haben pressure groups keine institutionelle Möglichkeit zur Mitentscheidung (z. B. in sektoralen Regulierungsgremien und korporatistischen Interorganisationsnetzwerken). Ebenso greift der Staat nicht in die inneren Angelegenheiten dieser Gruppen ein. Es ist ein interessenpolitisches Trennsystem, das nur auf der Basis politischer Tauschgeschäfte zwischen sozial geschlossenen, komplementär interessierten Akteuren oder eines politischen Kräftemessens (Wettbewerbsmodell, Nullsummenkonstellation) zwischen konkurrierenden Interessen funktionieren kann. So ist es von Bentley (z.B. Kräfteparallelogramm) und - modifiziert - von Truman auch gesehen worden (vgl. Olsen 1967, 1986).

 Mancur Olson (1965, 1986) thematisiert die unter Umständen verheerenden Auswirkungen eines solchen Systems, in dem der "demokratische Egoismus" der Gruppen auf ein politisches "Ringen im Porzellanladen" hinausläuft. Sein Gegenrezept besteht in der hierarchischen Unterordnung der Gruppen unter die Autorität des Staates. Die "neokorporatistische Austauschlogik" (Lehmbruch 1978) basiert demgegenüber auf wechelseitiger Rücksichtnahme durch Akteurvernetzung. Die Logik der Vernetzung ist die der Integration zum Zweck der Verhinderung politischer Ringkämpfe im Porzellanladen. Sie dient den Beteiligten zur Risikobegrenzung und im günstigen Fall auch zur Initiierung von Positivsummenspielen. In diesem Fall handelt es sich um ein bewußtes Externalitätenmanagement, das die unerwünschten Nebenwirkungen eines unkoordinierten Zusammenwirkens politischer Akteure begrenzen möchte. Die Begrenzung solcher Nebenwirkungen setzt indessen voraus, daß auch der Handlungsspielraum der beteiligten Akteure begrenzt wird. Sollen zum Beispiel inflationstreibende Tariflohnabschlüsse durch kooperatives Handeln in tarifpolitischen Netzwerken verhindert werden, müssen sich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände auf Regeln einlassen, die ihren Handlungsspielraum einengen. Policy-Lernen findet in solchen Konstellationen vermutlich dann einen günstigen Nährboden, wenn sich die beteiligten Akteure aufgrund bewußt erfahrener sachlicher Unsicherheit und beschränkter eigener Lösungsmöglichkeiten für kollektive Problemlösungen öffnen.

Finden die Akteure aber einen Weg, ihre Probleme eigenständig zu lösen, und sehen sie darin die größeren Erfolgsaussichten, kann von kollektivem, inter-organisatorischem Policy-Lernen nicht mehr gesprochen werden. Dies wäre dann individuelles Anpassungslernen. Je mehr sich politische Akteure auf diese Weise unverbunden an eine sich ändernde Problemumwelt mit je unterschiedlichem Erfolg anpassen, desto mehr nähert sich der gesamte Vorgang einem evolutorischen Selektionsprozeß, in dessen Verlauf sich politische Strukturen und Kräfteverhältnisse dramatisch ändern können. In solchen eigendynamischen Prozessen ist stets mit einem Verlust politischer Kontrolle und delegitimatorischen Folgen zu rechnen. Die hohe gesellschaftliche Innovations- und Anpassungsfähigkeit eines solchen Systems des politischen Kräfteausgleichs trennt Gewinner und Verlierer bis zu einem Maße, das mit einem verhandlungsdemokratischen Modell politischer Konfliktregelung nicht vereinbar ist.

 Ziel und Nutzen von Teilnehmerbindungen in Verhandlungssystemen bestehen vor allen im Gewinn strategischer Sicherheit. Sie eröffnet Möglichkeiten kollektiver Kontrolle, wie sie unter strategischer Unsicherheit und in eigendynamischen Prozessen unkoordinierter Problemlösungen nicht erreichbar wären. Andererseits schließt Teilnehmerbindung auch Handlungsoptionen aus: Chancen, die im Alleingang schneller, adäquater und zum größeren Vorteil eines einzelnen Akteurs oder des Gesamtsystems wahrgenommen werden können. Das Problem besteht also darin, festzustellen, wo die nützlichen Restriktionen institutioneller Mehrebenenverflechtung aufhören und in schädliche, die Handlungsfreiheit der Beteiligten zum Nachteil aller beschränkende Restriktionen übergehen. Die Lösung dieses Problems zu finden, mag mehr versprechen, als die Analyse von Mehrebenesystemen allein unter dem Aspekt ihrer zweifellos vorhandenen demokratiefeindlichen und wohlfahrtsschädlichen Aspekte anzugehen.
 
 
 

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1 Für hilfreiche Kommentare danke ich Ulrich von Alemann und Jörg Bogumil.

2 Eine Ausnahme bildet Wiesenthal (1990), der im Anschluß an Elster Präferenzkonflikte nicht nur für intern differenzierte korporative Akteure, sondern auch für individuelle Akteure annimmt. Letztere würden als "multiple selves" die strengen Prämissen des methodologischen Individualimus ebenso verletzen wie Verbandsakteure mit heterogener Mitgliedschaft.

3 Stern (1974: 25) meint mit "Kontroll- und Abstützungsgefüge" nichts anderes als die "checks and balances", die von den amerikanischen Verfassungsvätern dem "divided government" des bikameralen, föderativen amerikanischen Präsidialsystems zugeschrieben wurden. Die Funktionsmechanismen dieses Systems besteht aus wechselseitiger Kontrolle und Abstützung (Balance) der politischen Machtzentren.

4 Dies ist natürlich nicht die Habermassche, auf kooperative Wahrheitsfindung abgestellte Perspektive eines "herrschaftsfreien" Diskurses. Nach dessen Logik "kann ein begründeter Konsensus zwanglos nur über Interessen herbeigeführt werden, die den Beteiligten (und Betroffenen) gemeinsam sind; ein Ausgleich zwischen partiellen Interessen verlangt Kompromisse, mithin Machtpositionen, die sich aneinander abarbeiten" (Habermas 1978: 120). Gerade das Beispiel der impliziten Kooperation über feindliche Fronten hinweg zeigt aber, daß sich Partialinteressen und gemeinsame Interessen überschneiden können und dabei wechselseitig beeinflussen. Soziales Lernen beziehungsweise Interorganisationslernen könnten in diesem Kontext als Beitrag zur Rationalisierung im Sinne einer stufenweisen Verallgemeinerung von Partialinteressen betrachtet werden. Ob daraus zuletzt ein kollektives, bei allen Beteiligten vollkommen identisches, das Gemeinwohl artikulierendes Interesse werden kann, wie dies Habermas vorschweb, ist eine Frage, die sich empirisch kaum überprüfen läßt. Zugleich bleibt fraglich, ob dies überhaupt wünschenswert sein kann, da sich dieser Zustand - euphemistisch gesprochen - rasch als eine Diktatur der Wahrheit herausstellen könnte.

5 Spieltheoretische "Battle-of-the-Sexes" Konstellationen, in denen gemeinsame und gegensätzliche Interessen bestehen und idealerweise wechelseitig ausgewogen werden, scheinen kollektives Lernen zu begünstigen.